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Titel
Wem gehört Bosnien?. Die Nationalitätenpolitik der Kommunisten in Bosnien und Herzegowina 1943–1974


Autor(en)
Pearson, Sevan
Erschienen
Stuttgarte 2019: Ibidem Verlag
Anzahl Seiten
530 S.
von
Franziska Zaugg, Historisches Institut, Universität Bern

Sevan Pearson beschäftigt sich in seiner Dissertation mit der Frage «Wem gehört Bosnien?» (S. 54). Es ist eine Frage, die spätestens seit Ende des 19. Jahrhunderts die Region umtrieb und bis heute aktuell geblieben ist. Pearson konzentriert sich in seiner Studie auf die Nationalitätenpolitik der jugoslawischen Kommunisten in den Jahren 1943 bis 1974.

Einer Einleitung zu Forschungsstand und -desideraten folgt ein informatives, zeitlich weit ausholendes Kapitel zur Entwicklung der Nationalitätenfrage auf dem Gebiet Bosniens und der Herzegowina seit dem 12. Jahrhundert bis zum Zweiten Weltkrieg. Pearson baut so zuerst ein reichhaltiges Fundament, um darauf seine Untersuchung zu entfalten. Diese Vorarbeit ist notwendig, weil sonst Ereignisse und Entwicklungen der Jahre 1943–1974 nur unzureichend verstanden und kontextualisiert werden können. Diesem Kapitel folgen vier weitere, welche die Zeiträume 1943–1959, 1960–1966, 1967–1971 und schliesslich 1971–1974 abdecken.

Die eigentliche Untersuchung setzt im Zweiten Weltkrieg ein – ein Krieg, der für das Gebiet Bosnien und Herzegowina (BiH) nicht nur Besatzung, sondern auch Bürger- krieg bedeutete. Dabei spricht Pearson die Gräueltaten von «Ustaše» und «Četnik»-Einheiten an, bleibt aber hinsichtlich der Zusammenarbeit mit der muslimischen Elite ungenau. Erwähnt werden zwar die Rekrutierungen für die Waffen-SS Divison «Handžar» (S. 102), dass aber diese de facto 1944 auch Teile Nordostbosniens beherrschte und somit dem deutschen Versprechen auf Autonomie der bosnischen Muslime auch Zugeständnisse gefolgt waren, bleibt unerwähnt. Auch die zahlreichen von diesem Verband begangenen Gräueltaten werden nicht erläutert, obwohl dies zum Verständnis der in Studie mehrfach erwähnten Altlasten aus den Zweiten Weltkrieg beigetragen hätte.

Anhand der unterschiedlichen Schreibweise «Muslime» mit grossem oder kleinem «M» / «m» erklärt Pearson, dass nicht nur die Deutschen, sondern auch die Kommunisten in BiH im Zweiten Weltkrieg einen Kampf um Personalressourcen führten. Während in den Jahren 1942/1943 in offiziellen Dokumenten von Muslimen mit einem grossen «M» die Rede ist, was einer impliziten Gleichstellung mit den beiden anderen ethnischen Gruppen, den Kroaten und Serben, gleichkommt, wird diese Bevölkerungsgruppe nach dem Krieg meist nur noch mit kleinem «m» genannt.

Muslime galten fortan «nur» noch als religiöse Gemeinschaft und sollten sich entweder den Serben oder Kroaten in BiH zuordnen. Auf der Suche nach einer jugoslawischen Identität begann sich die Kommunistische Partei Jugoslawiens (KPJ) nach dem Bruch mit der Sowjetunion 1948 auf die territoriale Selbstverwaltung zu konzentrieren. Dies förderte auch die wieder erwachende Diskussion um dem Status der Muslime. In der Volkszählung 1953 wurde neu die Kategorie «Jugoslawe» geschaffen, die viele bosnische Muslime wählten, da sie sich weder als Serben noch als Kroaten fühlten. Die Diskussion um den Status der Muslime blieb präsent. Waren sie nun eine religiöse Gemeinschaft oder doch ein «narod», eine Nation bzw. eine ethnische Gruppe?

Seit 1965 beschäftigte nicht nur die «muslimische», sondern nun auch die «kroatische Frage» die bosnische und jugoslawische Politik. Der Sturz Aleksandar Rankovićs 1966 beflügelte die bereits anhaltenden Diskussionen um die verschiedenen Nationen in BiH und ihre Gleichberechtigung. Eine wesentliche Folge davon war, dass die Muslime in BiH im Mai 1968 per Resolution erstmals als Nation bezeichnet und damit auf die gleiche Ebene wie Kroaten und Serben gestellt wurden. Pearson arbeitet in seiner Studie gekonnt heraus, dass die Wahrung des interethnischen Friedens weiterhin ein Drahtseilakt blieb. Insbesondere die unterschiedliche wirtschaftliche Entwicklung der Regionen innerhalb BiHs verschärften schwelende lokale Konflikte, die wiederholt in Protokolle des Zentralkomitees des Bundes der Kommunisten Bosnien und Herzegowinas, der Kommission für interethnische Beziehungen wie auch der Kommission für religiöse Angelegenheiten Eingang fanden (beispielsweise S. 258, 278, 333).

Die «nationale Frage» – Schreckgespenst aller Kommunisten und von Josip Broz Tito mehrfach als gelöst bezeichnet – hatte sich in diesen Jahren wieder als permanentes Thema auf die politische Agenda geschlichen. Nationalistische Tendenzen verstärkten sich und wurden von Kroatien und Serbien als auch von unterschiedlichen, in der Emigration lebenden Gruppierungen noch verschärft. Die Jahre 1971–1974 waren geprägt von der Bekämpfung dieser verschiedenen nationalistischen Tendenzen, die sogar zu Ausschlüssen, beispielsweise von vier Angehörigen des Zentralkomitees des Bundes der Kommunisten Kroatiens wie auch tausender weiterer Mitglieder führten. Gleichzeitig förderte aber der Bund der Kommunisten BiHs die Gleichberechtigung der einzelnen Ethnien weiter, woran auch ihre eigene wachsende Autonomie innerhalb der Föderation zu erkennen ist.

Pearsons detailreiche Studie bietet sowohl für Historikerinnen als auch Politikwissenschaftlerinnen informative Einblicke in die Nationalitätenpolitik über drei Jahrzehnte. Sie offenbart erstens den ständigen Balanceakt zwischen Zentralismus und Föderalismus, zweitens die Anstrengungen zum Ausbau der Autonomie BiHs innerhalb der Föderation und drittens die anhaltenden Anpassungen politischer Verhältnisse im Spannungsfeld von Wahrung des interethnischen Friedens und wiedererstarkender nationaler als auch nationalistischer Tendenzen innerhalb BiHs. Zur Verständlichkeit beigetragen hätte sicherlich eine vorgängige Einführung der unterschiedlichen, teilweise parallel verwendeten Begriffe der religiösen, ethnischen und nationalen Gruppen. Hervorzuheben ist Pearsons umfangreiche Archivarbeit und die Erschliessung neuer Quellenbestände, die in seine Arbeit einflossen. Als Betrachter von aussen, ohne politische Agenda, ist es Pearson gelungen, die von ihm eingangs erwähnte ausgeglichene und multiperspektivische Herangehensweise umzusetzen und eindrückliche Einblicke in die Komplexität politischer Verhältnisse und Entwicklungen in BiH wie auch auf jugoslawischer Ebene zu ermöglichen. Dieses Buch bietet somit auch gute Ausgangsstudie, um die Konflikte der 1990er Jahre in dieser Region zu studieren.

Zitierweise:
Zaugg, Franziska Anna: Rezension zu: Pearson, Sevan: Wem gehört Bosnien? Die Nationalitätenpolitik der Kommunisten in Bosnien und Herzegowina 1943–1974, Stuttgart 2019. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 71 (3), 2021, S. 572-574. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00093>.

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